Wie schützen wir uns in der Krise? Dieser Frage sind am Montag (27. Juni) auf Einladung von Andreas Deuschle Experten aus Politik und Katastrophenschutz nachgegangen. Bei dem Abend auf dem Esslinger Weingut Bayer stand die persönliche und gesellschaftliche Resilienz im Mittelpunkt der Diskussion.

„Ich habe die halbe Nacht wach gelegen und darauf gewartet, dass es endlich losgeht“: Da waren die Katastrophenbilder der Flutnacht im Ahrtal gerade über den Fernsehbildschirm geflimmert und Patrick Bayer davon ausgegangen, dass auch er und andere Freiwillige der Neuhausener Feuerwehr zur Hilfe gerufen würden. Schließlich hatte der Landschaftsgärtnermeister diese Hilfe den örtlichen Behörden angeboten gehabt. „Doch wir sind nicht richtig gehört worden“, so der 32-Jährige.

„Das Landratsamt Ahrweiler hat sogar ausdrücklich davon abgeraten, ins Katastrophengebiet zu fahren.“ Schließlich macht sich Bayer mit seinem Mitarbeiter Moritz Maier – „auf eigene Faust“, wie er sagt – sowie einem Lastwagen, einem Radlader und einem Kettenbagger auf den Weg nach Rheinland-Pfalz. Bayer: „Für uns war klar, dass wir helfen. Und wir wollten keine Zeit verlieren.“

„Leblose Körper hingen in den Gartenzäunen“

Was sich den beiden Männern dann im Flutgebiet darbietet, macht sie fassungslos. Leblose Körper hingen in Gartenzäunen, Autos in den Bäumen, Brücken und Asphaltdecken waren weggeschwemmt. Und über allem schwebte der beißende Geruch von Heizöl. „Ich habe schon viele Hochwassereinsätze gesehen, aber die waren alle Kindergarten dagegen“, fasst Bayer seine Katastropheneindrücke zusammen. In dieser unübersichtlichen Lage legen die beiden Männer einfach los, packen an und schuften vier Tage lang von früh morgens bis kurz vor Mitternacht. Sie helfen, Straßenzüge wiederherzustellen und Bürgern, die auf ihren Grundstücken nur mit schwerem Gerät weiterkommen.

„Wir haben Bilder im Kopf, die wir nicht mehr losbekommen“

„Wir haben Bilder im Kopf, die wir nicht mehr losbekommen“, bilanziert Bayer den Einsatz. Auf ihren Einsatzkosten in Höhe von mehreren tausend Euro bleiben die beiden Männer sitzen, nachdem auch Andreas Deuschle, der sich unterstützend eingeschaltet hatte, bei den rheinland-pfälzischen Behörden nichts erreichen konnte. Vor allem aber haben die beiden Neuhausener die Erfahrung gemacht, dass im entscheidenden Moment von Krisenmanagement wenig spür- und sichtbar war. Wie schützen wir uns in der Krise? Im Ahrtal schien man auf diese Frage keine richtige Antwort gefunden zu haben.

„Es ist wichtig, dass wir auch selbst fit werden und mit schwierigen Situationen klarkommen“

Matthias Berg war von 2003 bis 2015 Stellvertreter des Esslinger Landrats und als solcher auch für den Katastrophenschutz zuständig. Er weiß, welch schweren Stand die Krisenprävention lange hatte. „Da gibt es Pläne für Stromausfälle, eine Pandemie, Terrorangriffe oder für den Einsatz von Atom- oder Chemiewaffen“, so Berg. „Aber man muss als Zuständiger immer dafür kämpfen, dass man ernst genommen wird – und gegen die Haltung ,So schlimm wird’s schon nicht werden‘.“ Heute legt Berg als zertifizierter Coach seinen Schwerpunkt auf die persönliche Resilienz, die eigene Widerstandskraft: „Es ist wichtig, dass wir auch selbst fit werden und mit schwierigen Situationen klarkommen.“

„Nicht in negativen Gedanken hängen bleiben!“
Der 61-Jährige erwähnt seine Mutter, die im Zweiten Weltkrieg Vater und Bruder verliert und in Bombennächten in Kellern ausharren muss. Er spricht aber auch die erlebten Anfeindungen an, denen er als Contergan-Behinderter ausgesetzt ist und eigene Rückschläge wie die Aufgabe seiner Tätigkeit im Landratsamt aufgrund einer Augenerkrankung.

Es sei immer wieder wichtig, rät Berg, „innerlich kurz durchzuatmen“ und vor dem Hintergrund schlechter Nachrichten auf die eigene Seelenhygiene zu achten. Konkret: „Ja, wir können uns auch jetzt immer wieder über den Ukraine-Krieg informieren, aber wir müssen ihn nicht in jeder Kaffeerunde zum Thema machen.“ Hilfreich sei auch, „gute, produktive Beziehungen zu pflegen“ und sich um andere zu kümmern. Denn, so Berg: „Geben gibt!“ Sein Fazit: „Ein wichtiger Punkt der Resilienz ist: Nicht in negativen Gedanken hängen zu bleiben.“

Baden-Württemberg rüstet sich auch gegen Cyberattacken

Insgesamt könne eine Krise sogar ein „produktiver Wendepunkt“ sein, betont Dr. Matthias Miller. Der Böblinger Landtagsabgeordnete ist CDU-Obmann in der Enquete-Kommission „Krisenfeste Gesellschaft“. Er verweist auf die Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 und den im Februar ausgebrochenen Ukraine Krieg: „Die haben den Wendepunkt im Bevölkerungsschutz gebracht.“ Baden-Württemberg habe etwa den Katastrophenschutz finanziell wesentlich gestärkt und als erstes Bundesland ein Cybersicherheitsgesetz und eine Cybersicherheitsagentur auf den Weg gebracht. Auch würden zwischenzeitlich wieder Bunker und Schutzräume reaktiviert, nachdem diese ab 2007 nach und nach aufgegeben worden waren.

„Wir brauchen einen Warnmix“

Und ab Dezember soll dann auch das Cell Broadcasting in Deutschland eingesetzt werden, das Warnmeldungen ohne App direkt auf jedes Handydisplay schickt. „Wir brauchen insgesamt einen Warnmix, um die Leute auf unterschiedlichen Wegen zu warnen“, so Miller. „Wenn der Bund also keine Fördermittel mehr für Sirenen zur Verfügung stellt, müssen wir als Land Mittel bereitstellen.“

Denn auch die Sirenen wurden nach dem Mauerfall schrittweise abgebaut und die Mittel aus dem Bundesförderprogramm waren vorzeitig ausgeschöpft. Von den von Esslingen beantragten Zuwendungen für 32 Sirenen seien beispielsweise keine bewilligt worden. Auch Neuhausen, das die Förderung für vier Sirenen beantragt hatte, ging demnach leer aus. Fazit hier: Es besteht weiter großer Handlungsbedarf.

Energieexperte erwartet bei der Stromversorgung „anspruchsvollen Winter“

Zum Schluss der Veranstaltung meldet sich noch Dr. Christoph Müller, Vorsitzender der Geschäftsführung vom Verteilnetzbetreiber Netze BW, aus dem Publikum zu Wort. Er stellt klar: „Es gibt keine hundertprozentig sichere Stromversorgung. In Deutschland ist ein Privathaushalt im Schnitt 15 Minuten im Jahr ohne Strom!“ Entsprechend werde es in den aktuellen Krisenzeiten erst recht einen „anspruchsvollen Winter“ geben. „Aber wir haben die Möglichkeit zu reagieren“, betont Müller. Er wirbt dabei dafür, zunächst das Beheizen der Schwimmbäder einzustellen, bevor Industrie und Privathaushalte in der Energiefrage gegeneinander ausgespielt werden. Auch hinter die Energiewende stellt sich Müller. Denn: „Alle fossilen Energien haben ihre Probleme.“

Wie schützen wir uns also in der Krise? Die Antwort darauf fällt an diesem Abend vielschichtig aus. Eines wird jedoch deutlich: Dass noch viele Hausaufgaben zu machen sind. Gesellschaftlich und vielleicht auch ganz persönlich.

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